Mittwoch, 27. Juni 2012

Zitterpartie


Da die Finanzmärkte ganz und gar computergetrieben funktionieren, kann es der Computerkolumnist nicht lassen, aus der Froschperspektive zu glossieren, was dort oben geschieht. Wir leben alle (ausser ein paar Finanzgötter[1], welche Billionenumsätze managen) unter einem gewaltigen Damoklesschwert, das jederzeit heruntersausen und in der realen Welt verheerende Zerstörungen anrichten kann. Schwindelerregende Milliarden-Transaktionen übertreffen Woche für Woche die jährlichen Bruttosozialprodukte der Staaten[2], nicht nur an den Börsen, sondern im kaum kontrollierten ausserbörslichen 7x24Stunden-Handel. Über die gefährlichen Instabilitäten durch zeitlich versetzt reagierende Computer habe ich im Januar schon berichtet. Heute fasziniert mich, der besonderen Gestalt wegen, eine Kurve, die in allen Zeitungen täglich erscheint: der Euro/Schweizerfranken-Wechselkurs. Seit Mitte April 2012 zittert dieser Chart knapp über der magischen 1.20 Grenze. Alle wissen, Euro-Käufe der Nationalbank halten die Linie stabil. Reden darüber ist derzeit verpönt, was an sich schon alarmierend ist. Die Marke wird, koste es was es wolle, verteidigt. Seit der Goldstandard gefallen ist, verfügt die Nationalbank über eine unerschöpfliche Geldmaschine, um den Heisshunger der Devisenhändler zu befriedigen. Nun hat sich seit Mitte 2011 die Geldbasis in der Schweiz aber mehr als verzehnfacht[3]. Und alle applaudieren. Niemand kommentiert die eigentümlich flache Zitterpartie, die der Euro-Kurs zum Schweizerfranken seit Mitte April 2012 kennzeichnet.

Solche Phänomene kennt man auch in der Physik, als Unheil ankündigende Zeichen.


So erinnert die Chart-Kurve derzeit an die gekräuselte Wolkenuntergrenze kurz vor einem gewaltigen Gewitter. Die Märkte (Hedgefonds) werden das Stabilisierungsvermögen der Nationalbank testen, heisst es. Ist unter diesem Himmel ein Niedersausen eines zerstörerischen Tornados nicht unwahrscheinlich? Denn im Finanz-/Wolkenhimmel zirkulieren ungeheure Geld-/Energiemengen, denen nichts widerstehen kann.

Wie die Finanzwelt, so ist auch das Gehirn ein ungeheuer komplexes Billionen-Gebilde.


Links: krankhafte Starrheit;  rechts: normal variabel
Hirnstromkurven sind wie Börsenkurse volatil und können im Normalfall verschiedenste Anforderungen elastisch bedienen. Epileptologen habe herausgefunden, dass über dem primär epileptogenen Areal, also über dem zum Anfall neigenden Hirngewebe, die Hirnstromkurve äusserst flach wird, genau wie unser fragwürdiger Chart. So gesehen wäre die Starrheit der Kurve ein Warnzeichen für einen bevorstehend Anfall, in welchem das dynamisch überreizte System unter grössten Ausschlägen zusammenbricht. Dann verliert der Epileptiker unter Muskelkrämpfen sein Bewusstsein.

Gleichartiges lässt sich am Herz beobachten. Normalerweise schlägt das Herz nicht starr wie ein Pendel, sondern mit Schwankungen wie oben abgebildet. Beim gesunden Herz variiert der zeitliche Abstand von Schlag zu Schlag. Dieses Schwankungsmuster ist für jede Person verschieden und kann sogar zur biometrischen Identifikation benutzt werden. Wenn dieses Muster erstarrt, ist das ein alarmierendes Krankheitszeichen, das Herz kann sich nicht mehr auf wechselnde Anforderungen einstellen, und es kann sich auch nicht mehr schnell erholen.

In allen drei Bereichen gibt es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die mit ein und denselben mathematischen Verfahren aus der Chaostheorie (Phasenraum-Diagramme, Komplexitätsmessung, Liapunov-Exponent) versuchen, die Neigung zur Instabilität zu berechnen. In der Neurologie und Kardiologie gibt es, darauf basierend, bereits Frühwarngeräte, um die Attacke resp. den Infarkt noch rechtzeitig abzuwenden.

In der heilsamen Eingriffen und Regulierungen widerstrebenden Finanzwirtschaft indessen will man davon nichts wissen. Für den, der die Zeichen zu deuten versteht, ist eine bevorstehende verheerende Krise auch aus dieser Perspektive keine Überraschung mehr.
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[1] www.forbes.com/lists/2012/hedge-fund-managers-12_land.html
[2] www.wer-weiss-was.de/Anfragen/www_de/archiv/160269/weltweiter-geldumlauf-finanzwirtschaft-zur-realwirtschaft.html
[3] FAZ Finanzen vom 21.12.2011 „Der grösste Sünder ist die Schweiz“

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