Sonntag, 17. Februar 2019

Strahlentherapie - vom Januskopf zum Hoffnungsträger

Bild aus dem PSI-CPT Newsletter (Link)
Eine Strahlentherapie weckt bei Betroffenen gemischte Gefühle und wirft existenzielle Fragen auf. Es beginnt mit CT und MRI. Bilder des Körperinnern zeigen geringfügige Abnormitäten, die oft nur der Radiologe erkennen und deuten kann. Zuweilen werden winzige Proben punktiert, in denen mikroskopische Abnormitäten ausgemacht werden. Wiederum geht eine Spezialistin ans Werk, eine Pathologin, die sich dem Leben auf der Zellebene nähert und deren Spruch oft gravierende Konsequenzen zeitigt. Nun beginnt die architektonische Festlegung des Bestrahlungsplans. Dabei erscheint der Januskopf: Auf der einen Seite zerstören die Strahlen empfindliches Krebsgewebe. Die Zellen des Tumors sind Einzelgänger, die sich um die Regeln der Gewebe-Gemeinschaft keinen Deut scheren.  Nach dem Kreuzfeuer der Bestrahlung geniessen sie keine nachbarschaftliche Aufbauhilfe und sterben ab. Der Zelltod wird im Bestrahlungsplan einkalkuliert und dosiert. Auch gesundes Gewebe wird vom Strahlengewitter erfasst, denn der Krebs wächst oft filigran in das gesunde Gewebe hinein. Doch das gesunde Gewebe ist ein funktionell streng organisierter Verband. Starke morphogenetische Kräfte walten hier. Werden DNA-Brücken in dieser Gemeinschaft durch den Teilchenbeschuss mit zerstört, helfen die noch gesunden Nachbarn die Fehlstellen zu reparieren, und zwar in wenigen Stunden. Die Optimierungsaufgabe der Medizin-Physiker in der Radio-Onkologie besteht in der Erhaltung eines hinreichenden nachbarschaftlichen Supports durch genügend gesundes Gewebe und der notwendigen nuklearen Vernichtung der solitären Tumorzellen. Strahlentherapie bedeutet niederreissen und aufbauen in ein und derselben Kur.
Die Strahlentherapie ist keineswegs neu. Schon Ende des 19. Jahrhunderts haben Ärzte mit radioaktiven Präparaten Tumore eliminiert und damit Menschenleben verlängert.  In den 30er-Jahren wurde bereits im „Kreuzfeuer“ bestrahlt und das den Fokus umgebende Gewebe geschont, allerdings ohne die zielgenaue Tumorlokalisation, die erst das Computertomogramm in den 70er-Jahren ermöglichte. Mit dem Stichwort Computer hat sich auch die Radiotherapie aus dem obskuren Janustempel zur hoch effizienten radiologischen Präzisionschirurgie entwickelt. Nur die „Kobaltbombe“ blieb dort zurück, spielt aber im 21. Jahrhundert keine Rolle mehr. Der Anteil der Strahlentherapie an onkologischer Heilung und Lebensverlängerung beträgt heute rund 50%. Das Messer des Chirurgen und der Strahl stehen, z.B. beim Prostatakarzinom oder im Gehirn, in ebenbürtiger Konkurrenz. Die Strahlentherapie ist berufsbegleitend, ambulant und hat vergleichsweise wenig Nebenwirkungen. Die Vorbereitung eines typischen konformalen 3D-Bestrahlungsplans erfordert die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Strahlenphysiker, Onkologin, Radiologen, Histologin und last-not-least eines Sicherheitsexperten. Alle arbeiten an Bildschirmen; sie benützen fortgeschrittene, zunehmend KI-gestützte Softwareprogramme. Der Elektronen-Strahl wird in einem computergesteuerten Linearbeschleuniger (Klystron und Waveguide) mit ~6-20 MeV aufbereitet. Die Elektronen werden in der Regel im Strahlkopf in Photonen umgewandelt. Mit dieser harten Gammastrahlung kann auch ein tief liegender Tumor je nach seiner anatomischen Lage und Form überall gleichmässig bestrahlt werden. Elektronen können nur wenige Zentimeter eindringen. Sie werden für oberflächennahe Tumore benützt. Eine Präzision im Millimeterbereich wird durch digitale Assistenzsysteme und einem dynamischen Multiblatt-Kollimator (bewegliche Strahlenblende) gewährleistet. Der Strahl folgt den Körperfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Darmmotilität; der adäquaten Ausformung des Zielgebiets sind kaum noch Grenzen gesetzt, auch hohle Aussparungen sind zur Schonung empfindlicher Organe möglich; die Fluenzmodulation (IMRT) sorgt für einheitliche Exposition unterschiedlich dicker Gewebeteile und multipler Zielobjekte. Der führende Lieferant dieser eindrücklichen Maschinerie ist die traditionsreiche Varian, eine US-Firma, die schon im zweiten Weltkrieg mit Klystrons in der Radartechnik Erfahrungen gesammelt hatte.

Freilich spielt auch die Schweiz eine führende Rolle in der medizinischen Bestrahlungstechnik. Ein Pionier war der bekannte Physiker Paul Scherrer an der ETH, bei dem vor, während und nach dem Krieg die Fäden der Kernphysik zusammenliefen. Er baute an der ETH schon in den 30er-Jahren das erste Zyklotron zur Beschleunigung von Ionen. Hier im Bild der "Tensator" und das "Cyclotron" (in Betrieb bis 1964, für Protonen bis 15 MeV) in den Katakomben vor dem alten Physik-Gebäude an der Gloriastrasse 35 in Zürich.
Das Cyclotron hier rechts im Bild.
Bilder: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Der Tensator erzeugte 700'000 Volt und
wurde zur Neutronen-Erzeugung benutzt.
Zusammen mit Walter Boveri (BBC) gründete er 1955 das Reaktorinstitut Würenlingen (später EIR), aus dem das heutige Paul Scherrer Institut (PSI) hervorging. Es ist das ETH-Hochenergie-Forschungszentrum der deutschen Schweiz und beherbergt heute modernste und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger, namentlich:
  • ein Zyklotron bis 590 MeV mit dem weltweit höchsten Strahlstrom 2.4 mA
  • ein Synchrotron bis 2.4 GeV, für verschiedenste internationale Anwendungen
  • ein neues kompaktes Zyklotron bis 250 MeV für die Protonenbestrahlung von Tumoren. 
Am PSI  wurde 1996 Pencil-Beam-Bestrahlungstechnik entwickelt, womit tiefliegende Tumore an kritischen Stellen punktgenau bestrahlt werden können bei fast totaler Schonung der umliegenden Organe. Heute gibt es dort drei Bestrahlungstische (Gantry 1-3), wovon hauptsächlich Kinder profitieren. Die schnellen Protonen entladen ihre Energie im Gewebe erst nach einer definierten Tiefe (im Bragg Peak). Dort kann der Brennpunkt auch einen kompliziert geformten Tumor zielgenau und randscharf abtasten. Mit gegen 10‘000 Bestrahlungspatienten seit 1984 ist das gut vernetzte PSI international führend in der onkologischen Protonenbestrahlung (Link).
Die Kombination mit der physikalischen und industriellen Hochenergie-Forschung bewirkt eine einzigartige Kompetenzenerweiterung. Allerdings: Hybris ist nicht am Platz, wenn der Tod sich nähert. Und dennoch, Hoffnung darf immer sein, dank Digitalisierung mehr denn je!
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Quellen:
  1. Zimmermann F, Negretti L, Zwahlen DR: Dank moderner Strahlentherapie: Ein besseres und längeres Leben! Schweizerische Ärztezeitung, 2018;99(38):1256-1259
  2. Christiansen H, Bremer M (Hrsg.): Strahlentherapie und Radioonkologie aus interdisziplinärer Sicht, 6. völlig überarbeitete Auflage. Lehmanns Media, Berlin, 2018, 531 S.
  3. Paganetti H (Ed.): Proton Therapy Physics, 2nd. Edition. CRC Press London, 2018, 746 S.
  4. Wäffler H: Kernphysik an der ETH Zürich zu Zeiten Paul Scherrers. Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1992) 137/3: 143-176 (Link)
  5. Pritzker A: The Swiss Institute for Nuclear Research SIN. Books on Demand, 2014, 188 S.
  6. B. Vonarburg: Millimetergenau bestrahlen, NZZ, 15.10.2018 (Link)



Sonntag, 6. Januar 2019

KI und Wikipedia

Die Teilnehmenden der WikiCon 5.-7.10.2018 in St. Gallen

Wie erschaffen tausend betuchte oder berentete Arbeitslose, Schüler und Studenten freiwillig die fünft meistbesuchte Webseite? Wikipedia ist mit 6000 Zugriffen pro Sekunde das meist gelesene Universallexikon aller Zeiten. Um täglich an Dutzenden Artikeln zu feilen oder neue zu redigieren, brauchst du viel Zeit. Früher haben gut bezahlte Redaktoren die Lexika gemacht. Der unrentable Druck wurde längst eingestellt. Bei jedem Wikipedia-Artikel lädt eine Griffel-Ikone ein, sein Wissen beizutragen, man braucht sich nicht anzumelden. Jeden Monat folgen 100‘000+ dieser Aufforderung. Allerdings gibt es bei Wikipedia keine Redaktion. Ist Chaos vorprogrammiert? 2005 verglich die Zeitschrift Nature die Qualität der Online-Ausgabe der Encyclopedia Britannica mit der englischen Wikipedia. Nature kam zum Ergebnis, dass es bei der Qualität kaum Unterschiede gibt. Wie kann die deutsche Wikipedia zweieinhalb Millionen Artikel in hoher Güte liefern? Wikipedia ist eine Meritokratie. Die Editoren sind zwar alle gleich, wenn sie sich an die Regeln der Plattform halten. Aber sie werden unbarmherzig überwacht durch lauernde Füchse, die Verdienste durch tausende Artikel haben. Du musst dich auf einen eisigen Wind gefasst machen, wenn du dich auf das Text-Eingeben einlässt. Dein Text wird oft nicht freundlich korrigiert, sondern unbarmherzig gestrichen. Zwar kannst du die Streichung zur Diskussion stellen. Aber dann läufst du Gefahr, dass sie dir einen Edit-War unterstellen und dich als Vandalen bezeichnen. Das ist ewig protokolliert und öffentlich einsehbar. Es gibt Filter, die dein Sündenregister auflisten; KI schlägt Alarm, wenn du Mist eintippst. Klar, dass die erfahrenen Admins längere Spiesse haben. Sie liefern sich selber den Streit um den richtigen Satz und stimmen ab. Kurzum, wenn du dich aufs Texten einlässt, darfst du keine Mimose sein. Bist du zu forsch, riskierst du eine Sperrung. Heute wirst du bei der Eingabe von Begriffen bei Google fast immer ganz oben auf Wikipedia verwiesen. Seitens Google ist kein Mensch beteiligt, nur Relevanz beurteilende KI. So kann sich KI mit Arbeitslosen verbinden, um unseren Wissensdurst zu stillen.
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[1] Günter Schuler: Wikipedia inside. Die Online-Enzyklopädie und ihre Community. Unrast-Verlag, Münster 2007, 280 S.
[2] Björn Hoffmann: Wikipedia reloaded. Kritik und Zukunft als Encyclopedia Europeana. Epubli-Verlag, Berlin 2016, 214 S.
[3] Michael Brückner: Die Akte Wikipedia. Falsche Informationen und Propaganda in der Online-Enzyklopädie. Kopp-Verlag, D-72108 Rottenburg 2014, 128 S.
Bild: Martin KraftMJK 29970 Gruppenbild WikiCon2018CC BY-SA 3.0