Sonntag, 29. Oktober 2017

Homo Deus

Bild: © KEYSTONE/MARTIAL TREZZINI
Diese Kolumne ist dem Kultbuch von Yuval Noah Harari gewidmet, einer Geschichte der Menschheit auf 476 Seiten.[1] Es liest sich spannend wie ein Kriminalroman. In grossen Bögen führt es zur heutigen Verfassung der Menschheit und entwirft auf diesem Fundament wahrscheinliche Szenarien, die unsere Enkel mit einer neuen Weltreligion konfrontieren werden, die der Autor Dataismus nennt. Damit einhergehende Umwälzungen verdienen Beachtung, weil sie unsere gesellschaftliche Verfassung und den modernen Menschen als Krone der Schöpfung grundlegend in Frage stellen. Dabei geht es aber nicht um die Aufwertung von Tieren, sondern um die Machtübernahme durch Algorithmen. Hararis Buch ist aus der grossen Flughöhe des Historikers geschrieben. Anderes wäre angesichts des gewaltigen Stoffs gar nicht möglich. Dazwischen sorgen viele klug ausgewählte Beispiele für ein unmittelbares Verständnis. Mehr noch: Das umfangreiche Buch (und sein Vorläufer "Eine kurze Geschichte der Menschheit") verdient einen Literaturpreis, weil es in einer kunstvoll-treffenden Sprache geschrieben ist, selbst in seiner deutschen Übersetzung. – Worum geht es?
I
Die Menschheit entwickelte sich über animistische Kulturen der Jäger und Sammler zu monotheistischen Gesellschaften jüdischer, christlicher, islamischer Prägung hin zum Humanismus der letzten Jahrhunderte. Diese universelle Religion stellt bis heute den Menschen als Mass und Sinnstifter in den Mittelpunkt. Der Mensch feiert sich selbst als die Krone der Schöpfung. Es bestehen zwar durchaus grosse Unterschiede zwischen Spielarten wie dem nationalsozialistischen, dem kommunistischen und dem liberalen „Humanismus“. Geprägt vom aufbrechenden wissenschaftlichen Geist glaubt die Mehrheit – auch der Liberalen – nicht mehr an übernatürliche Mächte. Doch sind wir alle darin einig, dass der Mensch ein Bewusstsein hat, das ihn zum Schmied seines Glücks macht. Das Credo von uns Heutigen ist: Ich glaube an meinen sich selbst bewussten Geist. Zwar verfügen wir über Einsichten, wie das ferne Universum entstanden sein könnte, aber wie dieses Nächste, diese mir so vertraut-reale Innenansicht meiner selbst, entstanden sein könnte, darüber hat die Wissenschaft keinen blassen Schimmer. Mehr noch: Was unsere Gesellschaft zusammenhält und funktionstüchtig macht, ist die „intersubjektive Realität“. Beispielsweise sind sich Muslime, Christen und Juden erstaunlich einig darin, dass sich nur mit Geld wirtschaften lässt. Oder dass alle heute ein Smartphone haben sollten, um sich in der Welt zu bewegen. Selbst die Landsgemeinden werden es bald statt des Stimmzettels benützen. Wir glauben, dies auch den Kindern zumuten zu müssen, obgleich das iPhone vor 10 Jahren noch völlig unbekannt war und namhafte Experten dagegen halten.
II
Unsere Bundepräsidentin warnt im Wirtschafts-Dachverband, wenn das 100x schnellere 5G-Internet nicht bald funktioniere, werde die Schweiz digital abgehängt.[2] Mit Hochdruck wird die Entwicklung vorangepeitscht. Die Tech-Konzerne applaudieren. Elektrosensible haben das Nachsehen. Leuthard sprach ihren Appell in ein Mikrofon, das am Rednerpult nur mit Klebband befestigt war, was geradezu sinnbildlich anmutet für das unsolide Fortschrittsdenken, das hier gepredigt wird. Wohin geht denn die Reise im Dataismus, der jüngsten globalen Spielart unserer liberal-kapitalistischen Glaubensgemeinschaft? Der Historiker Harari hat die Übersicht und konstatiert: "Wenn die Welt tatsächlich ein einziges Datenverarbeitungssystem ist, was ist dann sein Output? Dataisten würden behaupten, dass es die Schaffung eines neuen und noch effizienteren Datenverarbeitungssystems ist, das man als Internet aller Dinge (IoT) bezeichnet. Sobald diese Mission erfüllt ist, wird Homo sapiens verschwinden." - Wie kommt der Historiker zu dieser verstörenden Einsicht? Tatsächlich ist #IoT überall auf dem Vormarsch. Algorithmen durchdringen den Alltag, wohin man schaut. Und es ist gängige biologische Lehre, dass Tiere, Emotionen und auch die menschliche Intelligenz nur Algorithmen sind. Eichendorff schrieb: „Die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“  Heute ist das Passwort der Zugang zum Informations-Schlaraffenland.
Und morgen? In der hypervernetzten Welt werden superintelligente Algorithmen die Regie übernehmen. Sie kennen uns besser, als wir selbst. Wir werden verschwinden, weil wir nicht mehr gebraucht werden. Nicht, dass wir nicht mehr da wären, im Gegenteil. Wir werden in der Datenkirche als Konsumenten gleichermassen gehätschelt und abgezockt, und die gutversicherten und mit ihren Daten zahlenden Patienten werden zu quasi Unsterblichen gepflegt.[3] Aber wir werden immer weniger zu entscheiden haben; unsere Macht wird sich unmerklich auflösen. Wir werden zu austauschbaren Chips im galaktischen Computer degradiert. Derzeit findet eine Inventarisierung der Menschen statt. Das kommende iPhone X vermisst unser Antlitz, bevor es uns den lebensnotwendigen Zugang gewährt. Der Datenhunger der Konzerne kennt keine Grenzen. Bald hält jedes Kind ein solches Denkzeug vor sein heiliges Gesicht.
III
Das 20. Jahrhundert ist gezeichnet durch mörderische Religionskriege zwischen den  kommunistischen, faschistischen und liberalistischen Konfessionen. Zwar waren diese drei vereint im „humanistischen“ Glauben, „dass Gott tot ist und dass allein menschliche Erfahrung dem Universum einen Sinn gibt.“ Angesichts des blutigen Gemetzels erscheint das ganze 20. Jahrhundert als ein grosser Fehler. Wie vor 1914 glauben Liberale heute wieder, die Geschichte stehe auf ihrer Seite. Krieg als Vater aller Dinge hat neben Vernichtung indes auch grundstürzende Neuerungen gebracht: Regelungstechnik und Computer (John von Neumann, Alan Turing, Karl Zuse), 1950 prophetisch als Kybernetik (Norbert Wiener) konzipiert, Informatik (Karl Steinbuch), PC und iPhone (Bill Gates, Steve Jobs) und Internet verschmolzen zur universellen Digitalisierung via Cloud (Urs Hölzle) und KI (Larry Page, Sergey Brin) und den sozialen Netzen (Mark Zuckerberg, Jack Dorsey).[4] Nun entsteht das Internet aller Dinge #IoT. Es, das allmächtige digitale System, braucht uns dann nicht mehr – mich – das entscheidungsfähige Ich, das in der modernen biologischen Lesart ohnehin nur eine Täuschung ist, weil Es alles besser weiss und besser kann. Poststellen und Bahnhöfe werden durch Plattformen im Handy ersetzt. In der eigenen Wohnung bewegst du dich sprachgesteuert, bedient und unterhalten vom allwissenden Es. Harari bringt viele Beispiele, wie sehr wir durch die Digitalisierungswelle ökonomisch abgehängt werden, weil nichtbewusste Algorithmen die Jobs übernehmen. Der Bundesrat fördert diese Entkopplung künstlicher Intelligenz vom menschlichen Bewusstsein. Der Liberalismus ist nicht nur durch die Wissenschaft bedroht, die fand, dass es keine freien Individuen gibt, sondern durch das digitale System, das auf unseren freien Willen keine Rücksicht nimmt. Der Mensch denkt, und weiss es – das System lenkt, weiss es aber nicht. Bis heute deutet nichts darauf hin, dass Algorithmen je Bewusstsein erlangen werden. Wird dieser Unterschied uns vor dem Verschwinden retten?
IV
25 Jahre sind es her, als sich John C. Eccles, Karl Popper und Daniel Dennet leidenschaftlich darüber stritten, ob das immaterielle Selbst die Algorithmen des Gehirns steuert.[5] Der Neurobiologe Eccles postulierte dazu Psychonen – geistige Felder als Träger unseres bewussten Selbst – die sich über die Dendronen der Hinrinde stülpen, um diese quantenmechanisch anzuregen, ohne die Erhaltungsgesetze der Physik zu verletzen. Die meisten von uns besässen doch einen natürlichen dualistischen Glauben an eine Wechselwirkung zwischen Geist und Gehirn, hoffte Eccles. Eccles forderte damit die Materialisten heraus. Und er fragte sie, ob sie sich dafür hergäben, ihre Töchter mit Robotern zu verheiraten. Es nützte alles nichts. Der Nobelpreisträger John C. Eccles war ein grosser Neurobiologe, aber er wird heute kaum mehr zitiert. Ein Blick auf die Gassen zeigt: Wir sind schon heute Cyborgs, denn alle, wirklich alle, starren in die kleinen Helferlein und können sich keine freie Minute mehr ohne sie vorstellen. Smartphones sind die Interfaces zum Datenhimmel, der im Silicon Valley immer umfassender und raffinierter ausgestattet wird. Dies ist unsere gegenwärtige dualistische(!) Verbindung zur Geist-Welt im Cyberspace. Eccles Psychonen haben endgültig ausgedient und den Datenwolken Platz gemacht. Indessen arbeiten Apple und Google an der nächsten Disruption, sie möchten das kleine Gerät aus unserer Wahrnehmung ganz verschwinden lassen zu Gunsten einer völlig transparenten Verbindung zum Cyberspace. Dieser wiederum wird immer mehr mit allem Lebensnotwendigen bestückt, für Kommunikation, Belehrung, Bezahlung, Unterhaltung, Anleitung, Erbauung, Entscheidung, und noch viel mehr, mit undurchschaubarer Rechenleistung für den eigenen inneren Optimierungsbedarf. Zum Beispiel wird vom System heute dringend verlangt, Fake-News augenblicklich zu erkennen und zu entfernen. So wie das Hirn, spricht auch der Cyberspace hauptsächlich zu sich selbst. Somit enthüllt sich immer deutlicher das Bild einer dataistischen Gesellschaft, die sich vollends durch Algorithmen leiten lässt. Der Preis sind die Daten eines jeden von uns, die wir dem System zu liefern haben. Harari: „Zu Beginn des 3. Jahrtausends ist der Liberalismus nicht nur durch die Vorstellung, wonach es keine freien Individuen gibt, bedroht, sondern durch ganz konkrete Technologien. Wir stehen vor einer wahren Flut äusserst nützlicher Apparate, Instrumente und Strukturen, die auf den freien Willen individueller Menschen keine Rücksicht nehmen. Können Demokratien, der freie Markt und die Menschenrechte diese Flut überleben?“ Am Ende stehen wir vor der Wahl, uns in den Daten zu verlieren wie Sandburgen am Strand in der Flut – oder unser Selbst-Bewusstsein auf ein solides Podest zu stellen, den Biologen zu erklären, warum das entscheidend ist, und den Tech-Konzernen ethische Grenzen zu setzen.[5] Unsere dringendste grosse Frage wird sein: Ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung? Da sind die Geisteswissenschaften gefordert. Der allwissende Cyberspace mit all seiner biologisch-physikalischen Kompetenz ist dafür völlig blind.




[1] Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. C.H.Beck-Verlag, 2017, 476 S., ISBN 9783406704017.
[2] https://www.aargauerzeitung.ch/wirtschaft/leuthard-ohne-5g-verliert-wirtschaft-bei-digitalisierung-anschluss-131646349
[3]  NZZ / Adrian Lobe: Herr, unsere täglich Technik gibt uns! Wir sind so säkular wie noch nie. Aber den Heilsversprechen der Computer-Gurus können wir uns nicht entziehen. Neue Zürcher Zeitung, 19. September 2017, p.37 
[4] Alle Portraits dieser Neuerer sind in diesem Blog zu nachzulesen.
[5] John C. Eccles: Wie das Selbst sein Gehirn steuert. Piper-Verlag, 1994, 281 S., ISBN 3-492-03669-4.
[5] Yuval Noah Harari: Reboot for the AI revolution. Nature, Vol. 550, 19-Oct-2017, p.324-327.

Montag, 19. Juni 2017

Ambros P. Speiser

Prof. Dr. Dr.h.c. Ambros Paul Speiser (Bildarchiv der ETH-Bibliothek)

„Wir stehen heute auf den Schultern von Riesen.“ Damit können wir zwar weiter sehen, laufen aber Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren. Diese Kolumne ist den Riesen gewidmet. Wir wollen wissen, wie sie unsere digitale Welt erschaffen konnten und welche naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sie dafür benützten. Kaum jemand vermag noch zu durchschauen, wie etwa ein iPhone funktioniert. Dieses beglückt uns mit Apps, die im Alltag – etwa im Verkehr – schon ganz unentbehrlich sind. Darüber tiefer nachzudenken, lohnt sich, zumal es in Zürich programmiert wird. Am besten befragt man die Riesen selbst. Einer von ihnen war Ambros P. Speiser, der ETH-Professor, der in den Fünfzigerjahren den ersten schweizerischen Computer baute. Seine Gedankenwelt begegnet uns in den Büchern „Digitale Rechenanlagen“ und „Impulsschaltungen“ (Springer 1961 und 1963), worin er den kommenden Computerbauern den Stand der Technik mit Röhren und Transistoren auseinandersetzte. Beide Bücher habe ich damals gierig aufgesogen. Ich durfte ihm an der Gloriastrasse im Physikinstitut auch begegnen. Er wirkte auf mich etwas abgehoben, wie ein Aristokrat. Kürzlich kam mir ein etwas anderer Speiser entgegen. Geerdet von seinen Aufgaben als Leiter der IBM-Rüschlikon und später der BBC/ABB-Forschung in Baden hat er spät noch ein Buch für das Volk geschrieben: „Regenbogen, Licht und Schall – Naturphänomenen auf der Spur“ (Piper Taschenbuch 2003). Kenntnis der Phänomene wird hier fesselnd vermittelt, vom Blitzschlag bis zu der schwierigen Schaltertechnik, von Goethes Farbenlehre bis zu den Flachbildschirmen, über Oberflächen von Regentropfen bis zum Rastertunnelmikroskop, was IBM-Rüschlikon die Sicht auf Atome und den Nobelpreis einbrachte. Alles ist in einfachsten Sätzen geschrieben – ein wunderbares Buch für Eltern, die den Fragen der Cyberkids nicht ausweichen wollen, und für technikferne Politiker, die technologische Entscheide zu fällen haben. Oder für all jene, die sich vor den Riesen fürchten, weil sie die Grundlagen und Werkzeuge, mit denen unsere Welt funktioniert, nicht kennen. Dieses antiquarisch bestellbare Buch verdient eine Neuauflage oder den Erwerb durch die Gemeindebibliothek.
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1) Ambros P. Speiser: Entwurf eines elektronischen Rechengeräts, Mitteilungen aus dem Institut für Angewandte Mathematik der ETH-Z, Hrsg. E. Stiefel, 1950 und 1954
2) Ambros P. Speiser: Regenbogen, Licht und Schall - Naturphänomenen auf der Spur. Piper Taschenbuch, 2003, 251 S., ISBN 3-492-23515-8
3) Rudolf W. Meier: Ambros P. Speiser, Nachruf in den Badener Neujahrsblättern, 79(2004).
http://www.e-periodica.ch/cntmng?var=true&pid=ban-001:2004:79::239
4) Siehe auch: http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Biographies/Speiser.html und http://www.library.ethz.ch/de/Ressourcen/Digitale-Bibliothek/Kurzportraets/Ambros-Speiser-1922-2003

Montag, 3. April 2017

Das Twitter-Quartett

(Bildquelle: Wikimedia Commons)

Wenn ein und derselbe bunte Vogel auf deinem Balkon zwitschert, mehrmals am Tag, magst du dich fragen, was er dir wohl mitteilen möchte. Vielleicht legst du ihm Brosamen auf das Geländer, oder Apfelschnitze. Bald sind mehrere Vögel da, und das Gezwitscher kann ganz schön Lärm machen. Es war ein Künstler namens Noah Glass, der “Twitter” (= engl. Gezwitscher) als Name vorschlug. Noah in San Francisco ist einer der vier Gründer der Micro-Blogger-Website Twitter, die es dir seit zehn Jahren ermöglicht, der Welt mit deinem Smartphone und sogar per SMS in maximal 140 Zeichen mitzuteilen, wo du gerade eine grüne Zahnbürste gekauft hast. Diese Möglichkeit, in die Welt zu zwitschern, was immer dir beliebt, interessiert offenbar viele Menschen.Twitter konnte einen rasanten Zuwachs verzeichnen, zwitschern via Twitter ist in. Es kamen so viele, dass der Draht riss und die Äste brachen, auf denen sie sassen. Die vier Gründer mussten laufend neue Server in Betrieb nehmen, um nach kurzer Zeit festzustellen, dass es immer noch nicht reichte. Sie konnten sich einfach nicht vorausschauend ausrüsten, jahrelang. Nicht weil das Geld für Datacenter fehlte, es floss in Strömen, von Investoren, die nur am Nutzerwachsum interessiert waren. Nein, Twitter brach oft zusammen, weil die chaotischen Hacker - anders als bei Google - nicht planten. Über ihren Programmierplätzen prangte das Logo “Let’s make tomorrow better mistakes.” Während sie ihre Webseite immer wieder hoch päppelten, stritten sie sich über den eigentlichen Sinn und Zweck ihres Zwitscherdienstes: Der Welt mitzuteilen, was du gerade tust, oder der Welt mitzuteilen, was gerade passiert? Inzwischen haben die 400 Millionen aktiven Nutzer diese Frage für sich entschieden. Während @realDonaldTrump täglich mehrmals mitteilt, was er gerade tut, liest man bei den @FDP_Liberalen, was aus Parteisicht gerade passiert. Trump twittert übrigens auch offiziell als @POTUS aus dem weissen Haus. Obamas Twitter-Account wurde auf @POTUS44 umbenannt, der 44. Präsident eben. Doch Trump benützt seine Privatadresse wie im Wahlkampf weiterhin, fast stündlich. Zwitschernd verschiebt er die politische Landkarte und erzeugt, Tweet um Tweet und im Krieg mit der Presse, immensen Impakt in der Welt.

Februar 2006: Schrill klingelte die Glocke um 18 Uhr. Alle Programmierer strömten zusammen, Bierdeckel knallten, klackerten zu Boden, das Hackathon bei Odeo ging zu Ende. Odeo, eine Podcasting-Webseite, erlaubte es, Audio und Video-Botschaften zu senden, aufzuzeichnen und zu teilen. Es war nicht klar, wie sich die Firma weiterentwickeln sollte. Zur Klärung wurde ein Hack-Day angesagt. Da konnte jeder Mitarbeiter frei programmieren, um dann seine Ideen zu präsentieren. Welches die beste sei, entschied der Chef, Evan Williams, der viel investierte und riskierte. Die Wahl fiel auf Twitter. Sie vereinbarten, dass Jack Dorsey und Biz Stone innert nur 2 Wochen einen Prototypen entwickeln sollten. Evan kam zu Geld, als Google sein Startup “Blogger” kaufte, aus welchem später “blogspot.com” wurde. (Sie lesen gerade auf Blogspot!) Der introvertierte, konfliktscheue Farmersohn wurde mit seinem Vermögen zum Hauptinvestor bei Twitter. Er brach das Studium ab und brachte sich selbst das Programmieren bei. Die Zusammenarbeit des Quartetts war kreativ, aber schwierig. Zankapfel war das ungeheure Potential des Internets. Bald wurde der überspannte Noah für die anderen unerträglich, weil er sein Temperament nicht zügeln konnte. Obgleich er Twitter aus der Taufe hob, schmissen sie ihn hinaus. Das Startup Twitter war ein chaotisches Hacker-Kollektiv. Die Einnahmen waren Null - jahrelang! Ehrgeizig verfolgte jeder verbissen seine eigene Ideen, um die Welt mit 140 Zeichen zu verändern. Dennoch, mit ihrer Microblog-Webseite trafen sie offensichtlich einen Nerv, denn bald hagelte es Anmeldungen. Aber für eine angemessene Infrastruktur und die Fragen der neu eingestellten Programmiere fühlte sich bei Twitter niemand verantwortlich. Trotz Negativschlagzeilen wuchs Twitter rasant und mauserte sich zum ultimativen Blitz-Nachrichtendienst, für Medienkonzerne und Aktivisten ebenso, wie für Musiker nach dem Motto “Alles, was gerade los ist.” Twitter fühlt der Welt, wo immer man hinschaut, augenblicklich den Puls. Deshalb interessieren sich auch Regierungen: Ihre Nachrichtendienste sehen durch Twitter am besten, was in Konfliktherden gerade passiert. Twitter, von Aussen eine Art Webseite, wurde im Juni 2010 noch immer von Kaugummi und Malerkrepp zusammengehalten.

Ausgerechnet als der russische Präsident Medwedew im Juni 2010 in San Francisco die Twitter-Zentrale betrat, brach der Dienst zusammen. Der Besuch wurde wochenlang vorbereitet. Man versuchte den Präsidenten abzulenken, hinzuhalten - bis es den Technikern gelang, Twitter wieder in Betrieb zu nehmen. Als Medwedew seinen ersten Tweet absetzte, ist Twitter haarscharf am Rufmord vorbeigeschrammt. Medwedews Tweet wurde augenblicklich rund um den Globus gelesen und von Obama und anderen Würdenträger beantwortet. Inzwischen twittern sie alle, Putin wöchentlich mehrfach, Merkel lässt von einem Regierungssprecher twittern - und wird dafür auf Twitter parodiert, Hollande hat bald 5000 Tweets abgesetzt, Elon Musk die Hälfte, Erdogan liess Twitter sperren, twittert aber seine Massenauftritte derzeit täglich live über Twitter-Periscope. Auch unser Bundesrat lässt über eine Fanseite twittern. Beziehungsweise: Er kann es nicht verhindern, dass Fans und Parodisten in seinem Namen twittern. Facebook hat 99% authentische Seiten. Twitter dagegen kontrolliert kaum, wer unter falschem Namen twittert. Fake News! Dies widerspiegelt die chaotische Hackermentalität seiner vier Gründer. Jeder war mit seinem Ego so sehr beschäftigt, dass sie sich abwechselnd aus der Firmenleitung schmissen, und die Techniker und die Medien oft nicht wussten, wer das Sagen hatte. Twitter entwickelte sich dank diesem Seilziehen aber besonders effektiv. Der Treibstoff war die grandiose Zuwachszahl. Anders als bei Google, wo für ausreichende Serverkapazität und minimale Ausfallzeiten umsichtig planend gesorgt wurde, brach der Kurznachrichtendienst notorisch zusammen. Und es gehen die Tweets, die fast alle öffentlich sind, schätzungsweise zur Hälfte an digitale Gespenster. Fake-Accounts indessen sorgen für Fake-News, was bei Twitter ein unübersehbares Problem ist. Dass sich Twitter dennoch als grösstes Nachrichtenportal entpuppte und die seriösen Medienagenturen zunehmend in Interpreten verwandelt, mag erstaunen. Heute behauptet sich Jack Dorsey (Bild) an der Spitze des bald 100 Milliarden Dollar Unternehmens. Der unbotmässige Möchtegern-Modedesigner und Geck hat die drei anderen Gründer aus der Firma verdrängt. Herausgeworfen - und zurückgeholt, darüber haben wir doch schon bei Steve Jobs berichtet? Wegen auffallender Ähnlichkeit seiner Karriere mit Steve Jobs jagt er seinem grossen Vorbild nach und imitierte es in jeder Hinsicht. Deswegen kann er heute auch unter dem Begriff “Steve Jobs 2.0” gegoogelt werden. Und in der Tat: seit seiner Rückkehr zu Twitter und dem Rausschmiss aller Gründer aus dem Twitter-Führungsteam, das heute auch aus zwei Frauen besteht, macht @Jack seinen Job als CEO bei Twitter gut. Und wie Jobs ist er überdies im Vorstand von The Walt Disney Company.