Freitag, 5. September 2014

John von Neumann

*28. Dezember 1903 in Budapest (Österreich-Ungarn) als János Lajos Neumann
† 8. Februar 1957 in Washington, D.C.
Man kann das Leben des amerikanischen Computer-Erfinders von seinem letzten Werk her aufrollen: Krebskrank auf dem Sterbebett arbeitete John von Neumann an seinem Vortrag Computer und Gehirn, den er auf Einladung von Yale's Silliman Lectures halten sollte. Sein Tod 1957 vereitelte dies. Die Parallelen zu Turing frappieren: Beide Pioniere kamen von der Mathematik über den Computer zur Biologie. Doch John von Neumann war anders: weltläufig, extravertiert, Gastgeber legendärer Partys, ein in Regierungskreisen hoch angesehenes Mitglied der Atomenergie-Kommission. Er arbeitete ungemein produktiv in verschiedensten Disziplinen. Nicht weniger als 150 Fachartikel wurden von ihm publiziert. Für die Physiker, die sich untereinander nicht mehr verstanden, schrieb er 1932 ein klärendes Buch: Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik.[1] Darin geht er dem Messproblem auf den Grund. Seine Interpretation der Quantenmechanik ist eine bis heute gültige Variante. Auch der erwähnte Vortrag ist kristallklar formuliert. Wer vom Begriff „Elektronengehirn“ Ebenbürtigkeit zwischen Kopf und Computer ableitet, wird eines anderen belehrt. Das Gehirn ist dem damaligen Computer vielfach überlegen, die Arbeitsweise ist grundverschieden. Doch gerade im Vergleich des Systems mit dem Organ begreift der Leser, wie beide rechnen. Von Neumann hatte die Gabe, komplexe Dinge leichtfasslich zu vermitteln. Diese Gabe kombinierte er mit einem überirdischen Verstand und einem fotografischen Gedächtnis. Seinen Kollegen war er ein gesuchter, aber gefürchteter Ratgeber. Oft griff er gute Ideen auf, entwickelte sie weiter und brauchte sie in eigenen Publikationen. Umgekehrt teilte er sein Wissen freimütig. Für die Regierung wurde er im Krieg zu einem unentbehrlichen Berater. Ab 1943 arbeitete er als Berater am Manhattan-Projekt  zur Konstruktion und Zündung der ersten Atombombe „Trinity“ in der Mogave-Wüste. Wegen der damit verbundenen Rechenaufgaben verfasste er im Alleingang die erste Bauanleitung für die US-Computer. Die Behörden versuchten vergeblich, diese bahnbrechende und genial-weitsichtige Arbeit geheim zu halten.


1927 veröffentlichte „Johnny“, wie ihn seine vielen Freunde nannten, in den Mathematischen Annalen seine „Theorie der Gesellschaftsspiele“, womit er einen Teil seiner Karriere, nämlich die des Wirtschaftsmathematikers, fulminant startete. Zwar analysierte er darin nur harmlose Brettspiele, doch trug seine Theorie den Keim zu weltpolitischen Umwälzungen in sich. Der 25-Jährige liebte das Spiel und er war in Berlin und Zürich oft in Pokerrunden anzutreffen. Mathematik studierte er bei Weyl und Polya[2] an der ETH Zürich so erfolgreich, dass er als Privatdozent an die Berliner Universität berufen wurde. Dort schrieb er über seine Spieltheorie „die Übereinstimmung der dabei herauskommenden Resultate mit den bekannten Faustregeln der Poker-Spieler kann als Bestätigung unserer Theorie gesehen werden“. Also spielte er immer mit Blick auf die Verfeinerung seiner Mathematik, die  als „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“ 1944 als Klassiker der Wirtschaftswissenschaft herauskam.[3] Er war dann längst Professor am legendären Institut for Advanced Studies in Princeton USA, zusammen mit Einstein, Gödel, Oppenheimer, Feynman und anderen. Von Neumann und Morgensterns luzider Wälzer „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“, begründete aus dem spielenden Punktesammeln das profitorientierte Denken, dessen Dominanz seither die westliche Gesellschaft anpeitscht. Dieses von Neumann wesentlich mitgeprägte Denken ergriff auch die Politik der Nachkriegszeit. Militärstrategen stürzten sich auf das Werk, von dem sie bei schwierigen Planungen Entscheidungssicherheit erhoffte. Von Neumann öffnete es die Türen zu zahlreichen Beratermandaten. Im September 1949 sammmelte die US Air-Force Luftproben über dem Japanischen Meer, die radioaktives Cerium 131 und Ittrium 91 enthielten. Das konnte nur bedeuten, dass irgendwo in Zentralasien eine Atombombe gezündet wurde, was die UdSSR danach bestätigte. Die US-Regierung war schockiert, das nukleare Wettrüsten begann. Von Neumann hatte sich abermals um nukleare Bombenfragen zu kümmern. Seine mathematischen Expertisen war äusserst gefragt, zumal er sich vehement zur nuklearen Überlegenheit der USA bekannte. Folgerichtig plante man in Los Alamos nun die viel stärkere Wasserstoffbombe und im Rahmen Denkfabrik RAND der Airforce spielte man theoretisch die Option Erstschlag durch, durch welche die kommunistische Welt vernichtet und eine Weltregierung durchgesetzt werden sollte. Johnny hatte schon immer ein Faible für Anwendungen der Mathematik, je bedeutsamere desto besser (und weil es ein höheres Salär einbrachte). Hier fand er nun das ultimative Experiment, welches seine letzten Ambitionen erfüllte. Von der Sprengstofflinse (zur Zündung der Kettenreaktion), über Fluiddynamik, Schockwellen-Optimierung, quantenmechanischem Wirkungsquerschnitt, Neutronenreflexion und -moderation, bis zum Modell des Mega-Game eines Erstschlags (er war Mitglied der Target-Kommission) fand er alles vor.  Zu Kollegen, die mehr Skrupel hatten, meinte er nur: „Du hast nicht verantwortlich zu sein für die Welt, in der du existierst.“ Dieser Rat machte Nobelpreisträger unbekümmert und sehr glücklich. Johnny’s  Knochenkrebs – den er sich vermutlich anlässlich der Versuchszündung der ersten Wasserstoffbombe im Pazifik geholt hatte – peinigte ihn zu Tode. Der geborene Jude, evangelisch geschulte Student, atheistischer Mathematiker verbrachte seine letzten Lebensmonate im Gespräch mit einem katholischen Priester. 

Dass Hitler nur auf gehorsame Soldaten setzte, erwies sich als Grube, in die er selbst hinein fiel. Zuse rettete seinen Computer von Berlin in eine Scheune im Allgäu, wo ihn nicht die Wehrmacht, sondern die ETH aufspürte. In England knackten die ersten Informatiker dank Alan Turing Hitlers chiffrierte Befehle, was die Wende im Atlantik und in der Ukraine einleitete. In den USA scharten sich die Informatiker um „Johnny“, der mit seiner Superintelligenz das Kriegsende im Pazifik herbeiführte, indem er Computer baute und damit die Atombombe rücksichtslos ins Werk setzte. Ohne Turing und von Neumann und ihre Computer hätte der 2. Weltkrieg viel länger gedauert und – wer weiss – eine völlig andere Weltordnung hinterlassen. Computer waren und sind entscheidend, um Kernexplosionen auszulösen. Dass Hitler den Computererfinder Karl Zuse nicht unterstützte ist ein starkes Indiz dafür, dass die deutschen Atomphysiker um Heisenberg keine Bombe bauten, denn dafür hätten sie Zuses Rechner benötigt. Aber das wussten die Alliierten nicht. Sie wurden gepeitscht von der Angst, Hitler könnte ihnen zuvor kommen.  Doch dessen Wehrmacht kapitulierte am 7. Mai 1945, einige Tage vor der ersten atomaren Testexplosion (Plutonium-239 als Spaltstoff) in White Sands USA. Als vier Monate später, am 2. September 1945, Japan unter dem Schatten der radioaktiven Atompilze über den zerstörten Städten Hiroshima und Nagasaki bedingungslos kapitulierte, wuchs in Amerika die Furcht, Stalin könnte sich ebenfalls Atombomben zulegen. Schliesslich standen sich die beiden kampferprobten Armeen in Europa gegenüber. Tatsächlich zündeten die Sowjets am 29. August 1949 ihre erste Atombombe, die praktisch eine Kopie der in Los Alamos erbauten ersten Versuchsbombe war. Klaus Fuchs, der in Los Alamos ein- und ausging, wurde als Spion enttarnt. Rücksichtslos verstrahlte Stalin Heerscharen von Zwangsarbeiter für die überstürzte nukleare Bombenentwicklung. Die Sowjets liessen die damals modernste Isotopentrennzentrifuge zur Uran-Anreicherung durch deutsche Forscher bauen, die wohl kaum durch Patriotismus zu motivieren waren. Dafür liess Stalin sie hinrichten, wenn Sie die Ziele nicht erreichten. Die Testexplosion in Semipalatinsk war der Startschuss zum Kalten Krieg der ungleichen Gesellschaftssysteme, der im Wesentlichen in ein Wettrennen um immer verheerendere Atomsprengköpfe und Trägersysteme ausartete.


Es ist kein Zufall, dass die konstruktivsten und destruktivsten Erfindungen just zum selben Zeitpunkt entstanden. Sie bedingten einander. Am Institut of Advanced Study (IAS) in Princeton USA baute Johnny nach Kriegsende mit einer Ingenieurgruppe die IAS-Maschine. Es war der erste elektronische, binäre, speicherprogrammierbare Computer in den USA mit konsequenter Von Neumann-Architektur. Dieses Funktionsmodell wird bis heute benützt. Das hatte im noblen Elfenbeinturm, wo die Theoretiker-Elite der Welt – unter ihnen Einstein und Gödel sowie Geisteswissenschafter – ihrem Glasperlenspiel frönten, fast eine Palastrevolution ausgelöst. Ingenieure mit ihren rauchenden Lötkolben und schmutzigen Händen entheiligten die Hallen und wurden schliesslich in einem Nebengebäude untergebracht. Aber es herrschte kalter Krieg, und Johnny, der in Militär- und Regierungskreisen ein- und ausging, konnte beinahe unbeschränkte Geldmittel beschaffen. Man wollte den Sowjets die Stirn bieten und um jeden Preis innert Jahresfrist die viel stärkere Wasserstoffbombe bauen. Dazu musste man leistungsfähigere Computer haben, denn die Uranbombe war hier nur die Zündkapsel, welche die nötige Hitze (100 Millionen Grad) und den Druck lieferte, um die sonnenähnliche Kernfusion in Gang zu bringen. Gegen die Superbomben-Entwicklungskosten von 20 Millionen Dollar (eine halbe Milliarde in heutiger Kaufkraft) waren die paar hunderttausend Dollar für den Rechner Peanuts. Eine Verpuffung wollte man sich nicht leisten, denn schliesslich waren die Versuchsexplosionen im Pazifik erstklassige weltpolitische Machtdemonstrationen. Im Stillen Ozean explodierte am 1. November 1952 die erste US-Wasserstoffbombe im Teller-Ulam-Design mit 10 Megatonnen Sprengkraft. Drei Jahre später feuerten die Sowjets ihre erste kopierte thermonukleare Versuchsbombe ab. Der brillante polnische Mathematiker Stanislaw Ulam war einer der engsten Mitarbeiter von John von Neumann. Er korrigierte mit Hilfe der von ihm und Johnny erfundenen Monte-Carlo-Methode die Mängel im ersten Entwurf, demjenigen von Edward Teller, dem „Vater der Wasserstoffbombe“, bevor dieser seine Fehlkonstruktion zünden konnte. Die Monte-Carlo-Methode braucht man heute in der Wetter- und Klimaforschung, in der Nuklearmedizin und in vielen anderen konstruktiven Anwendungen.


Zeitgleich beschäftigten sich Forscher um John von Neumann, so wie auch Turing in England, mit zellulären Automaten und evolutionsbiologischen Modellen. Watson und Crick entdeckten die Doppelhelix der DNA, in der alle Erbinformationen im Kern der lebendigen Zellen codiert sind. All dies wäre ohne numerische Computermethoden undenkbar gewesen. Zweifellos waren die ersten Computer Kinder des Krieges. Sie begründeten aber die Morgendämmerung des digitalen Zeitalters, das uns heute beispielsweise die personalisierte Medizin beschert, wo dank präziser Information aus dem Erbgut von Krebszellen immer öfter auf Chemotherapie verzichtet werden kann. Ob all dieser Erfolge geht in der Öffentlichkeit fast vergessen, dass die bösen Geister noch quicklebendig in ihren Flaschen ruhen. Tausende Atomsprengköpfe und thermonukleare Megatonnen werden in den Arsenalen hüben und drüben und in Drittstaaten von einer verschwiegenen Garde erstklassiger Wissenschaftler gepflegt und gefechtsbereit gehalten. Wer mag entscheiden, ob sie uns vor dem Angriff schützen oder den Untergang vorbereiten? Werden am Ende die Glasperlenplanspiele strategischer Computer entscheiden?




[1] John von Neumann: Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik. Springer, Berlin, 2011, 262 S.
[2] Das Buch G. Polya: Schule des Denkens hat mir während des Studiums sehr geholfen.
[3] John von Neumann, Oskar Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten. Physica, 1967, 668 S.
[4] William Poundstone: Prisoner's Dilemma.
Anchor Book, New York, 1992, 320 S.
[5] George Dyson: Turing's Cathedral. Panteon Book, New York, 2012, 432 S.
[6] Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. Suhrkamp, 1996, 605 S.