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*28. Dezember 1903 in Budapest (Österreich-Ungarn) als János Lajos Neumann † 8. Februar 1957 in Washington, D.C. |
Man kann das Leben des amerikanischen Computer-Erfinders von
seinem letzten Werk her aufrollen: Krebskrank auf dem Sterbebett arbeitete John
von Neumann an seinem Vortrag Computer und Gehirn, den er auf Einladung von
Yale's Silliman Lectures halten sollte. Sein Tod 1957 vereitelte dies. Die
Parallelen zu Turing frappieren: Beide Pioniere kamen von der Mathematik über
den Computer zur Biologie. Doch John von Neumann war anders: weltläufig,
extravertiert, Gastgeber legendärer Partys, ein in Regierungskreisen hoch
angesehenes Mitglied der Atomenergie-Kommission. Er arbeitete ungemein
produktiv in verschiedensten Disziplinen. Nicht weniger als 150 Fachartikel
wurden von ihm publiziert. Für die Physiker, die sich untereinander nicht mehr
verstanden, schrieb er 1932 ein klärendes Buch: „Mathematische Grundlagen der
Quantenmechanik“.[1] Darin geht er dem Messproblem auf den Grund. Seine
Interpretation der Quantenmechanik ist eine bis heute gültige Variante. Auch
der erwähnte Vortrag ist kristallklar formuliert. Wer vom Begriff
„Elektronengehirn“ Ebenbürtigkeit zwischen Kopf und Computer ableitet, wird
eines anderen belehrt. Das Gehirn ist dem damaligen Computer vielfach
überlegen, die Arbeitsweise ist grundverschieden. Doch gerade im Vergleich des
Systems mit dem Organ begreift der Leser, wie beide rechnen. Von Neumann hatte
die Gabe, komplexe Dinge leichtfasslich zu vermitteln. Diese Gabe kombinierte
er mit einem überirdischen Verstand und einem fotografischen Gedächtnis. Seinen
Kollegen war er ein gesuchter, aber gefürchteter Ratgeber. Oft griff er gute
Ideen auf, entwickelte sie weiter und brauchte sie in eigenen Publikationen.
Umgekehrt teilte er sein Wissen freimütig. Für die Regierung wurde er im Krieg
zu einem unentbehrlichen Berater. Ab 1943 arbeitete er als Berater am Manhattan-Projekt zur Konstruktion und Zündung der ersten Atombombe
„Trinity“ in der Mogave-Wüste. Wegen der damit verbundenen Rechenaufgaben
verfasste er im Alleingang die erste Bauanleitung für die US-Computer. Die
Behörden versuchten vergeblich, diese bahnbrechende und genial-weitsichtige Arbeit
geheim zu halten.
1927 veröffentlichte „Johnny“, wie ihn seine
vielen Freunde nannten, in den Mathematischen Annalen seine „Theorie der
Gesellschaftsspiele“, womit er einen Teil seiner Karriere, nämlich die des
Wirtschaftsmathematikers, fulminant startete. Zwar analysierte er darin nur
harmlose Brettspiele, doch trug seine Theorie den Keim zu weltpolitischen
Umwälzungen in sich. Der 25-Jährige liebte das Spiel und er war in Berlin und
Zürich oft in Pokerrunden anzutreffen. Mathematik studierte er bei Weyl und
Polya[2] an der ETH Zürich so erfolgreich, dass er als Privatdozent an die Berliner
Universität berufen wurde. Dort schrieb er über seine Spieltheorie „die
Übereinstimmung der dabei herauskommenden Resultate mit den bekannten
Faustregeln der Poker-Spieler kann als Bestätigung unserer Theorie gesehen
werden“. Also spielte er immer mit Blick auf die Verfeinerung seiner
Mathematik, die als „Spieltheorie und
wirtschaftliches Verhalten“ 1944 als Klassiker der Wirtschaftswissenschaft
herauskam.[3] Er war dann längst Professor am legendären Institut for Advanced
Studies in Princeton USA, zusammen mit Einstein, Gödel, Oppenheimer, Feynman
und anderen. Von Neumann und Morgensterns luzider Wälzer „Spieltheorie und
wirtschaftliches Verhalten“, begründete aus dem spielenden Punktesammeln das
profitorientierte Denken, dessen Dominanz seither die westliche Gesellschaft anpeitscht.
Dieses von Neumann wesentlich mitgeprägte Denken ergriff auch die Politik der
Nachkriegszeit. Militärstrategen stürzten sich auf das Werk, von dem sie bei
schwierigen Planungen Entscheidungssicherheit erhoffte. Von Neumann öffnete es
die Türen zu zahlreichen Beratermandaten. Im September 1949 sammmelte die US
Air-Force Luftproben über dem Japanischen Meer, die radioaktives Cerium 131 und
Ittrium 91 enthielten. Das konnte nur bedeuten, dass irgendwo in Zentralasien eine
Atombombe gezündet wurde, was die UdSSR danach bestätigte. Die US-Regierung war
schockiert, das nukleare Wettrüsten begann. Von Neumann hatte sich abermals um
nukleare Bombenfragen zu kümmern. Seine mathematischen Expertisen war äusserst
gefragt, zumal er sich vehement zur nuklearen Überlegenheit der USA bekannte.
Folgerichtig plante man in Los Alamos nun die viel stärkere Wasserstoffbombe
und im Rahmen Denkfabrik RAND der Airforce spielte man theoretisch die Option
Erstschlag durch, durch welche die kommunistische Welt vernichtet und eine
Weltregierung durchgesetzt werden sollte. Johnny hatte schon immer ein Faible
für Anwendungen der Mathematik, je bedeutsamere desto besser (und weil es ein
höheres Salär einbrachte). Hier fand er nun das ultimative Experiment, welches
seine letzten Ambitionen erfüllte. Von der Sprengstofflinse (zur Zündung der Kettenreaktion),
über Fluiddynamik, Schockwellen-Optimierung, quantenmechanischem Wirkungsquerschnitt,
Neutronenreflexion und -moderation, bis zum Modell des Mega-Game eines Erstschlags
(er war Mitglied der Target-Kommission) fand er alles vor. Zu Kollegen, die mehr Skrupel hatten, meinte
er nur: „Du hast nicht verantwortlich zu sein für die Welt, in der du existierst.“
Dieser Rat machte Nobelpreisträger unbekümmert und sehr glücklich. Johnny’s Knochenkrebs – den er sich vermutlich
anlässlich der Versuchszündung der ersten Wasserstoffbombe im Pazifik geholt
hatte – peinigte ihn zu Tode. Der geborene Jude, evangelisch geschulte Student,
atheistischer Mathematiker verbrachte seine letzten Lebensmonate im Gespräch
mit einem katholischen Priester. –
Dass Hitler nur auf gehorsame Soldaten setzte, erwies sich als
Grube, in die er selbst hinein fiel. Zuse rettete seinen Computer von Berlin in
eine Scheune im Allgäu, wo ihn nicht die Wehrmacht, sondern die ETH aufspürte.
In England knackten die ersten Informatiker dank Alan Turing Hitlers chiffrierte
Befehle, was die Wende im Atlantik und in der Ukraine einleitete. In den USA
scharten sich die Informatiker um „Johnny“, der mit seiner Superintelligenz das
Kriegsende im Pazifik herbeiführte, indem er Computer baute und damit die
Atombombe rücksichtslos ins Werk setzte. Ohne Turing und von Neumann und ihre
Computer hätte der 2. Weltkrieg viel länger gedauert und – wer weiss – eine
völlig andere Weltordnung hinterlassen. Computer waren und sind entscheidend,
um Kernexplosionen auszulösen. Dass Hitler den Computererfinder Karl Zuse nicht
unterstützte ist ein starkes Indiz dafür, dass die deutschen Atomphysiker um
Heisenberg keine Bombe bauten, denn dafür hätten sie Zuses Rechner benötigt.
Aber das wussten die Alliierten nicht. Sie wurden gepeitscht von der Angst,
Hitler könnte ihnen zuvor kommen. Doch dessen
Wehrmacht kapitulierte am 7. Mai 1945, einige Tage vor der ersten atomaren
Testexplosion (Plutonium-239 als Spaltstoff) in White Sands USA. Als vier
Monate später, am 2. September 1945, Japan unter dem Schatten der radioaktiven Atompilze
über den zerstörten Städten Hiroshima und Nagasaki bedingungslos kapitulierte,
wuchs in Amerika die Furcht, Stalin könnte sich ebenfalls Atombomben zulegen.
Schliesslich standen sich die beiden kampferprobten Armeen in Europa gegenüber.
Tatsächlich zündeten die Sowjets am 29. August 1949 ihre erste Atombombe, die
praktisch eine Kopie der in Los Alamos erbauten ersten Versuchsbombe war. Klaus
Fuchs, der in Los Alamos ein- und ausging, wurde als Spion enttarnt. Rücksichtslos
verstrahlte Stalin Heerscharen von Zwangsarbeiter für die überstürzte nukleare
Bombenentwicklung. Die Sowjets liessen die damals modernste
Isotopentrennzentrifuge zur Uran-Anreicherung durch deutsche Forscher bauen,
die wohl kaum durch Patriotismus zu motivieren waren. Dafür liess Stalin sie
hinrichten, wenn Sie die Ziele nicht erreichten. Die Testexplosion in
Semipalatinsk war der Startschuss zum Kalten Krieg der ungleichen
Gesellschaftssysteme, der im Wesentlichen in ein Wettrennen um immer verheerendere
Atomsprengköpfe und Trägersysteme ausartete.
Es ist kein Zufall,
dass die konstruktivsten und destruktivsten Erfindungen just zum selben
Zeitpunkt entstanden. Sie bedingten einander. Am Institut of Advanced Study
(IAS) in Princeton USA baute Johnny nach Kriegsende mit einer Ingenieurgruppe die
IAS-Maschine. Es war der erste elektronische, binäre, speicherprogrammierbare
Computer in den USA mit konsequenter Von Neumann-Architektur. Dieses
Funktionsmodell wird bis heute benützt. Das hatte im noblen Elfenbeinturm, wo
die Theoretiker-Elite der Welt – unter ihnen Einstein und Gödel sowie
Geisteswissenschafter – ihrem Glasperlenspiel frönten, fast eine
Palastrevolution ausgelöst. Ingenieure mit ihren rauchenden Lötkolben und schmutzigen
Händen entheiligten die Hallen und wurden schliesslich in einem Nebengebäude
untergebracht. Aber es herrschte kalter Krieg, und Johnny, der in Militär- und
Regierungskreisen ein- und ausging, konnte beinahe unbeschränkte Geldmittel beschaffen.
Man wollte den Sowjets die Stirn bieten und um jeden Preis innert Jahresfrist die
viel stärkere Wasserstoffbombe bauen. Dazu musste man leistungsfähigere
Computer haben, denn die Uranbombe war hier nur die Zündkapsel, welche die
nötige Hitze (100 Millionen Grad) und den Druck lieferte, um die sonnenähnliche
Kernfusion in Gang zu bringen. Gegen die Superbomben-Entwicklungskosten von 20
Millionen Dollar (eine halbe Milliarde in heutiger Kaufkraft) waren die paar
hunderttausend Dollar für den Rechner Peanuts. Eine Verpuffung wollte man sich
nicht leisten, denn schliesslich waren die Versuchsexplosionen im Pazifik
erstklassige weltpolitische Machtdemonstrationen. Im Stillen Ozean explodierte am
1. November 1952 die erste US-Wasserstoffbombe im Teller-Ulam-Design mit 10
Megatonnen Sprengkraft. Drei Jahre später feuerten die Sowjets ihre erste kopierte
thermonukleare Versuchsbombe ab. Der brillante polnische Mathematiker Stanislaw
Ulam war einer der engsten Mitarbeiter von John von Neumann. Er korrigierte mit
Hilfe der von ihm und Johnny erfundenen Monte-Carlo-Methode die Mängel im
ersten Entwurf, demjenigen von Edward Teller, dem „Vater der Wasserstoffbombe“,
bevor dieser seine Fehlkonstruktion zünden konnte. Die Monte-Carlo-Methode
braucht man heute in der Wetter- und Klimaforschung, in der Nuklearmedizin und
in vielen anderen konstruktiven Anwendungen.
Zeitgleich beschäftigten sich Forscher um John von Neumann, so wie auch Turing in England, mit zellulären Automaten und evolutionsbiologischen Modellen. Watson und Crick entdeckten die Doppelhelix der DNA, in der alle Erbinformationen im Kern der lebendigen Zellen codiert sind. All dies wäre ohne numerische Computermethoden undenkbar gewesen. Zweifellos waren die ersten Computer Kinder des Krieges. Sie begründeten aber die Morgendämmerung des digitalen Zeitalters, das uns heute beispielsweise die personalisierte Medizin beschert, wo dank präziser Information aus dem Erbgut von Krebszellen immer öfter auf Chemotherapie verzichtet werden kann. Ob all dieser Erfolge geht in der Öffentlichkeit fast vergessen, dass die bösen Geister noch quicklebendig in ihren Flaschen ruhen. Tausende Atomsprengköpfe und thermonukleare Megatonnen werden in den Arsenalen hüben und drüben und in Drittstaaten von einer verschwiegenen Garde erstklassiger Wissenschaftler gepflegt und gefechtsbereit gehalten. Wer mag entscheiden, ob sie uns vor dem Angriff schützen oder den Untergang vorbereiten? Werden am Ende die Glasperlenplanspiele strategischer Computer entscheiden?
[1] John von Neumann:
Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik. Springer, Berlin, 2011, 262 S.
[2] Das Buch G. Polya: Schule des Denkens hat mir während des Studiums sehr
geholfen.
[3] John von Neumann, Oskar Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches
Verhalten. Physica, 1967, 668 S.
[4] William Poundstone: Prisoner's Dilemma. Anchor Book, New York, 1992, 320 S.
[5] George Dyson: Turing's Cathedral. Panteon Book, New York, 2012, 432 S.
[6] Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. Suhrkamp, 1996, 605 S.