Montag, 1. November 2010

Cyberfriedhöfe


Über Nacht ist Mami sanft entschlafen. Mit gut neunzig Jahren hat sie uns still verlassen. Die geerdete, gesunde Frau sprach wenig über ihren bevorstehenden Tod. Sie verbrachte ihr Leben in ländlicher Gegend; Leben und Tod waren ihr im natürlichen Verlauf vertraut.

Nun sind wir ins letzte Glied vorgerückt, oder ist es das erste? Gewiss ist, das Ende naht. Daran zu denken, ist schwer. Kein Wunder, haben sich die Menschen zugeredet, dass dies nicht das Ende sei. Einige scheinen aus überirdischen Quellen zu wissen, wie es im Jenseits weitergeht. Andere, wie jener Organist, der an Tausend Abdankungen gespielt und die Tröstungen alle mithören musste, lassen sich – wenn es für sie so weit ist – doch lieber überraschen. Niemand konnte von den Toten Auferstandene befragen. Dennoch kamen mit dem Internet – Mami war siebzig, als es mit dem WWW los ging, sie kannte es nur vom Hörensagen – einige neue Bewältigungsstrategien hinzu. Zum ersten sind da die kontroversen theologischen Ansichten, die es in Griffnähe bringt, etwa der Wikipedia-Artikel zur „Ganztodtheorie“, wie sie auch von Karl Barth vertreten wurde. Wie viel haben Menschen doch über den Tod spekuliert, er ist wahrlich ein unerschöpfliches Thema! Das bestätigt die Linksammlung „Der Tod im Internet“ auf Postmortal.de, die bereits über 4 Millionen mal besucht wurde.

Unabhängig von allen staatlichen Grenzen sind im Internet völlig neue Varianten von Gedächtnispflege und Trauerkultur entstanden: die virtuellen Friedhöfe. Sie heissen World Wide Cemetery, Garden of Remembrance, Cybercemetery, oder Virtual Memorial Garden, für 99 Dollar werden 99 Jahre unvergängliches Gedenken geboten. Maus und Modem haben hier den Steinmetz ersetzt. Bekanntlich vergisst das Internet nichts. Wer hier Spuren hinterlässt, wird sie immer finden. Der Grund dafür sind die zahlreichen Web-Server (der Gedächtnisraum im Internet wird inzwischen auf 10 hoch 10 Gigabytes geschätzt) und Einrichtungen wie Archive.org, die eigens dafür geschaffen wurden, alte Ausgaben von Webseiten, auch gelöschte Webseiten, zu archivieren. Wer sich eine persönliche Webseite zulegt, gestaltet unbewusst auch sein virtuelles Grabmal. Soziale Netze sind beliebt, Facebook, Xing und wie sie alle heissen, sie werden zunehmend von den Suchmaschinen erfasst und gepuffert. Facebook versetzt Tote Mitglieder in den „Memorial State“. Neue Portale für digitale Ewigkeit wie Stayalive.com, wo man Kerzen für Verstorbene anzünden kann, sie sind eigentlich überflüssig.

Für Mami übrigens blühen Blumen auf einem gediegenen Grab, wie sie es sich gewünscht hat, im Friedhof neben der Kirche.

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